Deutsch als Fremdsprache
Teil 1 – Teil 2 – Teil 3 – Teil 4 – Teil 5 – Teil 6 – Teil 7
Hans Pfeiffer:
Man hört immer wieder, es wird immer weniger Literatur gelesen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber jedenfalls bei den Gedichten – ist zu hören – ist es am schlimmsten. Also es werden immer weniger Gedichte gelesen. Andererseits hab' ich gesehen, es gab eine Initiative des Literaturhauses Wien, beginnend im Jahr 2022, „Stimmen gegen den Krieg“, wo Autorinnen und Autoren eingeladen wurden, Beiträge zu schicken an das Literaturhaus,1 und da gibt’s mittlerweile mehr als 700 Beiträge, die meisten in Gedichtform. Das heißt also, es gibt doch sehr viel Leute, sehr viele Leute, die Gedichte schreiben. Kann es sein, dass es mehr Leute gibt, die Gedichte schreiben, als solche, die Gedichte lesen?
Gerhard Ruiss:
Diese Initiative stammt von mir, Stimmen gegen den Krieg, ich hab' sie ins Leben gerufen, damit wir nicht sprachlos bleiben und vor allem nicht emotional sprachlos bleiben angesichts der sich immer grauenhafteren ... grauenhafter darstellenden Entwicklungen. – Es wurden immer mehr Gedichte geschrieben als gedruckt und gelesen, weil – Gedicht ist so eine direkte, unmittelbare, nahe Form, und sei es nur für die Tagebücher oder seien es auch abgeschriebene Gedichte für Poesiealben. Also – die Befassung, die schreibende Befassung mit Gedichten war immer … hat immer einen Überhang gehabt. Wo jetzt die Probleme auftauchen, sind ... sie werden nicht mehr so in den Vordergrund gestellt im Verlagswesen. Sie verschwinden, sie bleiben … sie halten sich an den Rändern auf.
Sie werden aber von den Communitys, die mit Gedichten zu tun haben, sehr geschätzt und sie haben immer so Auf- und Abentwicklungen. Also ich denke in der Geschichte zurück: Die erste Form der … des Veröffentlichens von Gedichten war der Vortrag, war der Minnegesang. Da gibt’s keinen Tonträger, da gibt’s kein Buch. Der Buchdruck in ... mit der beweglichen Metallletter ist ja erst wirklich angelaufen – so im, kann man sagen, 16. Jahrhunert, vorher waren ja – gab's ja nur gemalte Bücher, wenn, und auch keine Sammlungen in der Form, die auf einen Autor bezogen waren, das gab's ja auch nicht. Das sind relativ junge Entwicklungen, und damals hat man schon gesagt: „Na ja, das ist der Tod des Vor[trags], des Sängers. Des Sängers, der wird jetzt nicht mehr gefragt werden, weil – es gibt ja das Buch als Massenmedium“. Und es hat ja wirklich einen großen Erfolgslauf gehabt; Tatsache ist, wir haben heute noch die Vortragskunst als ganz wesentliche, eigene Kunst, ob das der Rezitativ ist oder jetzt slang poetry, also es taucht ja immer wieder neu auf und in – natürlich – verschiedenen Qualitätsstufen und genauso, wenn man nicht jetzt sozusagen naserümpfend sagt „Da nicht!“ und „Das nicht!“, dann kommt ja Dichtung unglaublich populär vor beispielsweise in der Werbung. In der Werbung wird ununterbrochen die gereimte Form strapaziert. Oder … dass … sozusagen … die Möglichkeit der Komprimierung auch, die das Gedicht bietet und als kurzes Gedicht bietet. Ich glaube, dass das Gedicht nicht an Beliebtheit verloren hat, aber ich glaube, dass es sozusagen weniger forciert wird als in früheren Zeiten. Dazu kommt natürlich, dass gegenüber dem Gedicht ein Misstrauen besteht. Man glaubt, Gedichte schreiben kann jeder und jede. Wir haben's ja gerade am Beispiel von ChatGBT miterlebt, natürlich kann man das Gedichteschreiben heucheln oder man kann auch mit unzulänglichen Mitteln Gedichte schreiben, aber – sozusagen – die Gedichte, von denen ich rede oder die ich meine – meistens sind das dann eh die Ausnahmegedichte schon aus dem ganzen Fundus der Lyrik, die sind nicht austauschbar, die sind nicht ersetzbar, die sind nicht beliebig.
Das ist das Eine, und das Andere: Der Fundes des Lyrischen ist natürlich nicht erschöpft. Wäre er erschöpft, dürfte es kein einziges Liebesgedicht mehr geben. Es gibt aber ununterbrochen neue Liebesgedichte, ja? Und genauso Spottgedichte und alles Mögliche, politische Gedichte und mein Interesse daran war erst, sozusagen, auch in diesem Wandel der Beziehungen der Menschen zueinander, in jedweder Form das Material neu zu untersuchen und neu zu kombinieren. Und ich hab' eine wunderbare Vergleichsmöglichkeit gehabt, ich hab' den Oswald von Wolkenstein nachgedichtet, der ja einen ganz anderen Umgang auch noch hat mit Begriffen wie Liebe, Sexualität, Nähe, Zärtlichkeit, als das eigentlich der viel destruktivere Umgang in unserem ... in unserer Gegenwart ist. Und für mich ist da wieder interessant, diese Dinge, diese Themen wieder zurückzuholen, zurückzuerobern, zu sagen: „Die sind weder tot noch sind sie so nicht mehr sagbar.“ Wenn, dann muss ich halt nach Wegen suchen, dass sie wieder sagbar sind, damit das „schöne Gedicht“ möglich ist. Und natürlich ist das „schöne Gedicht“ möglich – und ist nicht sozusagen nur, ich weiß nicht, also alles … alles nur dekonstruierbar. Und nach dem Dekonstruierten muss man von vorne wieder beginnen.
Und wir haben in Österreich in paar wunderbare Beispiele, weil Österreich ja auch bekannt ist für die Experimentierfreude im Umgang mit Sprache, und da gibt’s ja wunderbare Beispiele. Ernst Jandl 2 hat nach seinen „Zertrümmerungsgedichten“ – hat er begonnen, konventionell zu schreiben und war auch ein wunderbarer konventioneller Dichter. Also er war beides, er war ein sehr wirkungsvoller Sprachzertrümmerer und hat natürlich sozusagen auch für gesellschaftliche Unruhe gesorgt und hat zugleich auch wieder aus diesem zertrümmerten Sprachmaterial neue konventionelle Gedichte zustande gebracht. Oder Artmann,3 der Sprachspieler – also ich nehm' da auch Bezug sozusagen auf meine eigenen Schreibtraditionen und habe das große Glück, alle diese Vorgängerinnen und Vorgänger zu haben, auf denen … sozusagen … bei denen ich fortsetzen kann.
Und – das war sogar eine Zeitlang so, dass ich den Verdacht hatte, ich kupfere die ab, ich werde unfreiwillig zum Plagiator meiner Vorgängerinnen und Vorgänger und hab' dann alle meine Sachen kontrolliert darauf, ob da irgendwas vorkommt, und zu meiner großen Erleichterung, bei meinem ersten neuen Gedichtband 2000 war nichts davon der Fall. Also, weder jandlt's noch artmannt's noch schon gar nicht rilkt's,4 also alle diese – wie sagt man – diese Dinge, die man auch mitnehmen kann als Ballast. Ich hab' diesen Ballast nicht mitgenommen, ich hab' das wirklich streng voneinander halten können und hab' meinen eigenen Stil daraus entwickelt, der von allem wahrscheinlich auch ein bissel was mitgekriegt hat und mitgenommen hat, genauso von Erich Fried,5 also von allen ein paar Elemente, aber es ist kein Fried, es ist kein Jandl und es ist kein Artmann, es ist keine Mayröcker 6 und es ist keine Gerstl,7 und ... also wie alle diejenigen, die ja auch zum Teil – was heißt zum Teil – das waren alles meine Zeitgenossen. Sie leben halt nicht mehr, die meisten.
1 abrufbar unter der Adresse https://www.literaturhaus.at/index.php?id=13661
2 Ernst Jandl: – geboren 1925 in Wien, verstorben 2000 in Wien
3 Hans Carl Artmann: geboren 1921 in Wien, verstorben 2000 in Wien
4 Es wurden weder Werke von Ernst Jandl noch von H.C. Artmann noch von Rainer Maria Rilke kopiert
5 Erich Fried: geboren 1921 in Wien, verstorben 1988 in Baden-Baden
6 Friederike Mayröcker: geboren 1924 in Wien, verstorben 2021 in Wien
7 Elfriede Gerstl: geboren 1932 in Wien, verstorben 2009 in Wien
Impressum Letzte Änderung: So., 7. Jan. 2024