Deutsch als Fremdsprache
„Seit wann hustest Du?“
Ich habe ihn lange gesucht in der gläsernen Bettenburg, deren Flure leer sind, blank desinfiziert.
„Hast Du Schmerzen?“
„Nein, ich bin nur schwach.“
Lichteinwürfe im Fahren. „Nehmen Sie Ihre Zeitung aus dem Fenster“, sage ich zu dem Mann neben mir. Ich rede so leise, als würde ich die Worte nur denken. Ich will nicht gehört werden von ihm. Mir ist kalt. Die Sonne soll auf meine Haare scheinen, meine bloßen Arme, mein Gesicht.
Das Erschrecken verbergen vor seinem Anblick. Die Haut, vergilbt wie altes Papier, spannt über den knochigen Gliedern. Mein Gesicht in der Beuge seines Halses verstecken in dem hilflosen Versuch, ihn wiederzuerkennen an seinem Geruch. Wie soll ich ihn begrüßen? Er ist kaum mehr da.
Auf meinem Einstiegsbahnhof eben, da saß ein Mann, als habe er immer dort gesessen. Ich möchte es glauben, dass er immer dort sitzt, auf der Bank zwischen den beiden Gleisen. Irgendwer soll irgendwo in dieser Stadt etwas für immer tun. Manchmal würde ich ihn sehen und manchmal nicht. Er trägt ein schwarzes Käppi, sein Haar ist zu einem grauen Zopf nach hinten geflochten, der gezwirbelte Bart lang und dünn, die Lippen bewegen sich. Der Mann hält ein Buch in beiden Händen, erhoben wie eine heilige Schrift. Seine schmalen Augen folgen dem Text, der in Säulen aufsteigt. Die Buchstaben sehen aus wie die Abdrücke winziger Flügel, die, in Tinte getaucht, über das Blatt flatterten. Die Lippen des Lesenden probieren die Worte wie zum ersten Mal, fragend.
Sagen Sie mir bitte etwas zum Tod.
Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Es schaut sich nicht ins Gesicht, wer unterwegs ist in dieser Stadt. Wer es doch unwillkürlich tut, möchte sich entschuldigen dafür.
Die Züge, in die er nie einsteigt, die kommen und gehen im Minutentakt, helfen ihm sich zu versenken in die flatternden Wortsäulen seiner Schrift. Im Befehlston scheuchte der Zugabfertiger uns Fahrgäste in die Waggons. Der Alte blieb sitzen, während ich gehorchte.
Viel Märzhimmel über metallisch schimmernden Büropalästen, die sich zum Schiffsbug runden. Im gläsernen Gehäuse der Bahn und ihrem glänzenden Innenleben reist spiegelnd mit, was diese Stadt an Formen und Farben, an Lichtern und Dunkelheiten im Himmel wie auf Erden zu bieten hat.
Unter dem leeren Sitz mir gegenüber liegt eine aufgerissene Tüte mit Gummibärchen. Dicht am Fenster fliegen Plakate mit Spitzen besetzter BHs vorbei, in denen riesige Brüste ruhen. Aussteigen. Einsteigen! Vor meinem geneigten Blick versammeln sich in unruhiger Folge zwei Paar Schuhe, rosa Sneaker an dicken, langsamen Füßen, seidenfeine Beine in schwarzem Lack neben einer Plastiktasche mit Eulen, die aus runden Augen hochglotzen zu mir.
Glotz mich nicht an, Eule, Totenvogel. Die Eule kam ans Fenster geflogen, wenn nachts in den Zimmern der Sterbenden Licht brannte, das einzige Licht in Zeiten, in denen die Nacht schwarz war wie der Tod, bevor künstliche Lichtattacken sie zur ewigen Helligkeit zwangen.
Das Stimmengemurmel in der Bahn erreicht mich wie Berührungen, die nur ein Gedanke sind. Wortblasen platzen sachte auf meiner Stirn, den bloßen Armen, den Lippen, die sich manchmal mitbewegen: „Sono esausta dal lavoro.“ „Icke doch nich.“ „Na, da kennste ma schlecht. Sag Kalle, er kann mich mal.“ „Do we have to change for the airport?“ „Mir können Sie nicht kündigen, Gott sei ...“
Die atemberaubende Schönheit anmutig gebauschter Wolken im begradigten Himmelsblau über Plattenbauten. Mein halbes Gesicht, gespiegelt in der Ausgangsschutzscheibe, für Sekunden in einen Sonnenflecken getaucht. Ich sitze mir gegenüber in den gespiegelten Körpersilhouetten von Menschen, die wechseln mit jeder Station.
Er ist schwach wie ein Windhauch. Als ich mein Gesicht zur Begrüßung an seinem Hals verberge, höre ich das schwache Echo eines kraftlosen Schluchzens, das sich verbraucht hat, lange bevor sein Sterben begann.
Was kann ich ihm sagen? Wir kennen keinen Gott, über den wir uns mit wenigen Worten verständigen könnten, und wir müssen mit Worten sparen.
„Setz dich auf den Stuhl da.“
„Ja.“
Er kann noch befehlen. Ich nehme seine Hand. Er schüttelt den Kopf. Er will essen. Eine Schüssel mit Pflaumenkompott will er essen in meiner Gegenwart. Nie sah ich einen Menschen entschlossener, ein Schüsselchen Pflaumenkompott zu verspeisen, drei schrumpelige Pflaumen in ihrem bräunlichen Saft. Er isst mit dem Tod um die Wette. Soll meine lebendige Gegenwart ihm helfen dabei? Sein Blick ist gerade aus auf das Ziel zugeschraubt. Seine Bewegungen sind diszpliniert und korrekt, als müsse er sie mühsam erinnern: Das Führen des Löffels, das Heben des Armes, die Lippen öffnen sich viel zu früh! Weit ist der wie in einem Traum, in dem Pflaume und Mund nie zusammenkommen, unendlich langsam gehobene Löffel entfernt von den aufgerissenen Lippen, bleibt stehen in der Luft.
„Ich schaffe es nicht.“
Der Löffel klirrt im Schälchen. Pflaumensaft spritzt auf das Tablett, die Bettdecke. Eine strenge Stille folgt, atemlos.
Was darf ich sagen. Was darf ich fragen. Wie darf ich schauen. Was darf ich fühlen. Wo darf ich helfen und wo besser nicht. Ich weiß es nicht mehr.
„Ich wollte doch alt werden mit dir“, höre ich mich plötzlich in die Stille hinein sagen, mit einer Stimme, die ich nicht kenne an mir.
„Ja“, sagt er. „Das habe ich auch gerade gedacht.“
Ich sehe ihn aus den Augenwinkeln, den Kapuzenmann mit Hund. Auf der dreckigen Stirn eine Wunde, braune Augen, wütend und gütig. Kann es so etwas geben: Eine gütige Wut. Der Hund heißt Mina. Er sagt es der Frau, die ein paar Münzen in seine schmutzige Hand fallen lässt, ohne sie zu berühren, diese schmutzige Hand, und nach dem Namen des Tieres fragt: „Das ist Mina, sie dankt.“
Spiegelungen, das einfallende Licht wechselt im Sekundentakt. Kapuzenmann, Hund, gebende Frau, schauende Frau reisen im selben Fenster, in dem die Kakaoflasche glänzt, aus der unser Nachbar im Nebenabteil mit zwei großen Strohhalmen trinkt. Unmutig richten die Mienen der Stehenden über den Bettelnden mit Hund. Verlegenheiten, als Hochmut getarnt. Gebannt von der eigenen flüchtigen Schönheit bauscht sich draußen eine Rauchfahne über ihrem roten Fabrikschornstein.
„Nimm dir den Stuhl da.“
„Ja.“
„Ich glaube, ich schaffe es nicht.“
Die Bahn verlangsamt auf holpriger Strecke, schleicht am kobaltblauen Rechteck eines betongefassten Wasserbeckens vorbei.
„Wir wollten doch alt werden zusammen“, habe ich zu ihm gesagt mit einer Stimme, die ich nicht kenne. Gereinigt von jedem Vorwurf, jeder Bitte, jedem Anflug von Traurigkeit.
„Das habe ich auch gerade gedacht.“ Er antwortet langsam. Er muss die Worte ebenso mühsam erinnern wie die Bewegungen, die sein Arm zu machen hat, um einen Löffel zum Mund zu führen.
Ich wische die Pflaumensaftspritzer auf seinem Tablett nicht weg.
Eine Bettelstimme, die unverständliche Worte raunt wie ein beschwörendes Wiederholungsgebet. Das dickliche Mädchen im schief zugeknöpften Sommerkleid, das die Bettlerin begleitet, bleibt vor dem küssenden Liebespaar an der Ausgangstür stehen. Mit offenem Mund vergisst sie das eingeübte Bittgeleier, schiebt sich die bettelnde Hand mit allen Fingern in den Mund.
Blumenstoff über mit Nieten beschlagenen Stiefeln. Hat jemand eine Decke aus Herzflimmern dabei? Ich verstehe die Worte nicht mehr, die alltäglichen, die Menschen sprechen bei ihrer Fahrt durch die Stadt. Lachen, Husten, Tüten rascheln.
Er wird sterben, wenn nicht ein Wunder geschieht. Lebertransplantation. Aufschneiden, zunähen. Wie soll dieser knochendünne Körper mit dem hungrigen Mund das überleben. Die Spenderleber von gestern war zu groß für ihn.
Ich steige nicht aus. Ich bleibe sitzen. Je länger ich sitzen bleibe, desto unmöglicher scheint mir der bloße Gedanke, aus der Bahn wieder auszusteigen. Könnte es sein, dass die anderen, die in einem mir nicht verständlichen Rhythmus den Zug verlassen und wieder betreten, immer dieselben sind? Jemand zieht durch die Nase hoch; keine Fröhlichkeit weit und breit.
Ich steige nicht aus. Ich bleibe in der Ringbahn sitzen. Ich fahre im Kreis, bis ich nicht mehr weiß, ob ich zu ihm fahre oder zurückkomme von ihm.
Vor allem wünsche ich Ihnen, dass Sie niemals unsere Hilfe brauchen werden.
Schon ist mir beim Fahren im Kreis gleichgültig geworden, wer wann und wo die Worte sagt, die ich zu hören glaube. Oder habe ich sie gelesen, die Worte, vor langer Zeit einmal selbst gesprochen, aus Träumen erinnert, mir ausgedacht? Wer will das wissen, ich nicht. Ein einziger langer Kuss an der Ausgangstür; vergessen die Liebenden auszusteigen? Pickelgesichter, grobporige, rote Trinkerhaut, blaue Lippen, blasierte Müdigkeit. Klipp klapp öffnen und schließen sich Münder: „Wodka steht bei denen neben der Milch auf dem Tisch.“ „Idioten, alles Idioten.“ „Bring bitte Schokolade mit.“
Verdunkelungen in Bahhofshallen. Hinter geriffelten Scheiben, die Brüstungen mit Drahstacheln gegen Drecktauben bewehrt, das milchige Astgewölbe frühlingskahler Bäume. Flaschen klappern im Rhythmus des Zuges, der langsam über eine Brücke rumpelt. Die öffentlichen Ekstasen eines Jugendlichen - mit zugestöpselten Ohren, die Augen geschlossen, wiegt er sich auf zwei Sitzen, das Gesicht blass vor Einsamkeit. Ein schwarzer Hund schnuppert im Vorbeigehen an meinem Knie. Vor den Küssenden haben sich türkische Mädchen versammelt in weiß und rosé, Kopftücher, mit Silberfäden durchwirkt, dick getuschte Wimpern, babyrosa Lippengloss, hektisch hantieren sie mit Handys herum.
„Ich musste kommen.“
„Ja.“
„Es ist genug jetzt.“
Ich steige nicht aus. Ich bleibe sitzen. Ich reise im Kreis durch die kreuz und quer verbaute Stadt. Angefangenes, Aufgerissenes, Abgestütztes, Eingefallenes, Trümmerhaufen unter einem kalten blauen Himmel, in dem für einen flüchtigen Augenblick klar gezeichnete Wolkentürme stehen. Weiße Silos, wie riesige Milchkannen, an denen rote Leitern lehnen. Überraschung: ein blühender Apfelbaum! Kahle Pappeln wischen ihre aufflammenden Silhouetten in marineblaue Containerbauten. Schrebergärten vor fernen Hochhauspalästen. Ein Stern mit Schweif in Bananengelb, schwarz umrandet, auf dem schmutzigen Weiß eines Trafokastens.
„Ich weiß nicht, ob wir uns wiedersehen.“
„Wie kannst du das sagen.“
„Es ist jetzt genug.“
Ich stehe schnell auf von dem Stuhl, den er mir zugewiesen hat.
Eine Tür so behutsam hinter mir schließen, wie ich es nie zuvor tat.
Ich fahre weiter. Ich bleibe in der Ringbahn sitzen. Habe ich etwas unterlassen? Was könnte es sein? Er hatte sich gewünscht, dass ich Worte mitbringe von einem Dichter. Ich hatte sie bei mir. Ich habe vergessen, sie ihm zu sagen. Vielmehr kam es mir lächerlich vor. Oder habe ich mir gewünscht, dass er sich diese Worte wünschen würde, weil ich sie ihm gern sagen würde? Ich weiß es nicht mehr. Längst vorbei, das himmelblau glänzende Hafengewässer, das wir auf einer eisernen Brücke überfuhren. Menschen steigen im letzten Sonnenlicht ein, werfen lange Abendschatten ins Abteil.
Im hell erleuchteten Krankenhaus vergebens nach Dunkelheit suchen.
Baumkuchenkringel aus Zellophantüten naschen. „Komm hier rüber, Alte, koste mal.“ Schwätzen mit vollem Mund, Schokokrümel auf den gelackten Lippen. Wir fahren ins Sonnenuntergangslicht, das meine Haare blond aufleuchten lässt. Neben mir im Augenwinkel eine Frau in Rot und Schwarz. Mein Gesicht im Spiegelbild des Wanderrucksacks eines Mannes, der im Gang neben mir steht, der Himmel wolkenlos.
Bogenbrücken, die Bahn fährt in die Erde, es wird kühl für Sekunden. Spanisch, Türkisch, Sächsisch, Polnisch, Italienisch, Schweigen aller Arten. „Ich wusste gar nicht, wie weit weg Indien ist.“ Wir gründen in unseren Abteilen Familien mit Mann, Kind, Hund und Picknickkorb für die Dauer von zwei Stationen. Wir sind andere, wenn wir auseinander gehen. Rosensträuße in weißer Tasche. Ein Fußball in Kinderhänden. Eine Krokoledertasche, von schwarzen Lederhandschuhen beschützt. Ein Dinosaurier im Schoß des Mannes mir gegenüber, der Junge, der neben ihm sitzt, legt seinen Kopf dazu, schließt die Augen.
Draußen weiß Blühendes, rasch verwelkt in diesem trockensten Frühling seit Aufzeichnung des Wetters. Flieder, kaum geduftet, schon verblüht. Über dem hoch geschobenen Ringelrock hört sich ein Kind den nackten Bauch mit dem Handy der Mutter ab: „Sag mal was, du!“
Abwesenheiten in Gesichtern; auf dem Bahnsteig humpelt eine alte Frau in goldenen Schuhen vorbei. Wolken reisen im Fenster mit zu Hauf, Sahnehäubchen auf dem angebissenen Kuchen der vergammelten Stadt.
„Siamo gia a Prenzlau ?“ Rußgeschwärzte Mauern stellen Graffiti aus; die Fratzen eingeschlagener Fenster. „Gottesglaube als psychotischer Wahn? Wo hast du denn das her?“ „Besitzen Sie eine Alarmanlage?“
Wer weiß, ob es links oder rechts herum geht, wenn alle zusammen im Kreise fahren? Wer steigt zuerst aus und wer zuletzt, wenn wir in der Ringbahn sitzen bleiben? Gaukler, Kesselflicker, Quacksalber, Missgeburten, entlaufene Nonnen, Narren, Schwertschlucker, Diebe und Bettler, die nicht sesshaft wurden und werden wollten, waren einst das fahrende Volk.
Eine langsame Prozession grasgrüner Lieferwagen, mit Gemüsebildern bedruckt, gleitet neben unserer Bahn zurück; im gähnend leeren Hinterhof stehen rote Stühle im Kreis - jeder Masse tragende Körper gestaltet das Licht der Stadt, dieses formlose Nichts, unser Lebenselexier.
Eine Tür so behutsam hinter mir schließen, wie ich es nie zuvor tat.
Vergebens nach Dunkelheit suchen in der gläsernen Bettenburg.
Ich fahre weiter. Niemand zwingt mich auszusteigen. Das Einsteigegekläff der Zugabfertiger gilt für mich schon lange nicht mehr. Ich bleibe hier sitzen, bis es Nacht wird. Ich bin das fahrende Volk. Vielleicht werde ich einen Stern sehen im lichtverschmutzten Himmel über der Stadt. Vielleicht steigt der alte Mann ein, der auf meinem Einstiegsbahnhof sitzen blieb, und liest uns laut vor aus seinem heiligen Buch. Vielleicht tanzt ein Zigeuner durchs Abteil mit seiner Quetschkommode und spielt so hinreißend weise Walzer, dass alle Reisenden mitklatschen im Rhythmus seiner Musik.
Es ist genug jetzt, steig aus.
Ja.
Impressum Letzte Änderung: Mo., 28. Okt. 2024