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Deutsch als Fremdsprache

Katharina Körting

Peters Sicht

Veröffentlicht in: Rette sich, wer kann? Der kleine Alltag des Widerstands, Geest-Verlag, Vechta Feb 2021

 

„Was für eine Scheiße!“ Peter klettert aus der Röhre und stößt sich dabei genau das Knie, dessentwegen er zum Arzt ging. Zum Arzt! Er! Sein Alter hätte sich kaputtgelacht. Oder irgendwas kaputt geschlagen. Zum Arzt geht man, wenn man krank ist, nicht, weil man – alt wird? Daran will Peter nicht denken. Er ist noch nicht alt, vielleicht ein bisschen älter als früher, aber er trägt immer noch dieselben Klamotten: Lederjacke, Cordhosen oder Jeans, graublonde lässig in Kragen und Stirn fallende Haare, ein lockeres Hemd. Nur die Schuhe sind teurer, auch wenn man ihnen das nicht ansieht. Schuhe sind ein Code fürs Dazugehören. Seit einer Weile hat er das Gefühl, er packt es nicht mehr. Manchmal zucken die Leute vor ihm zurück, seit er allein ist. Seit Ingrid … Dieser verdammte Krebs. Und nun tut auch noch sein Knie weh, seit Monaten schon, es wird eher schlimmer.

Sein Handy piept.

„Magst du einen Kaffee trinken?“

Sandra. Die hat er vor kurzem kennen gelernt. Schade, dass sie nicht blond ist, Dunkelhaarige sind nicht sein Typ. Interessant findet er sie trotzdem. Ist nicht so biestig wie viele heute. Lacht gern, glockenhell, das gefällt ihm.

„Wo denn“, tippt er zurück.

Sie treffen sich in einem Café. Es dauert nicht lang, und er steuert auf das Thema Politik zu. Dafür hat er sich immer schon interessiert. Was hat er sich mit dem Alten gestritten früher! Peter hatte den Wehrdienst verweigert – „Vaterlandsverräter“, brüllte der Vater. Zielstrebig hat Peter sich aus seiner kleinbürgerlichen Herkunft weggerobbt. Hat bei der Arbeiterwohlfahrt mit linken Kollegen gekifft und sich über die Bundeswehrtypen lustig gemacht. „Da kam es schon auch mal zu Handgreiflichkeiten. Aber ich lasse mich nicht mehr herumkommandieren“, sagt er. Das hatte er als Kind echt genug.

Sandra lacht. Sie hat sowas Dunkles im Blick dabei – Mitgefühl? Bewunderung? Er mag das.

„Mein Vater ist schon lange tot“, sagt Peter in beruhigendem Tonfall. Mutter auch. Die einzige Schwester lebt in Hamburg, seiner alten Heimat, sie hat Familie dort, aber das ist nicht seine Welt. Er fühlt sich immer noch fremd, als Onkel. Eine seiner Freundinnen früher hat ihm mal ein Kind aufgedrängt, Siggi, er wollte nicht, aber sie hat es bekommen. Einen Sohn. Peter wollte immer noch nicht, da ist sie gegangen. Der Junge muss jetzt auch schon über dreißig sein. „Hast du Kontakt?“, will Sandra wissen. Klar will sie das wissen, sowas wollen sie immer wissen. Und er muss dann sagen, nee, kein Kontakt. Dann kommt wieder dieser dunkle mitfühlende Blick, diesmal gemischt mit Unverständnis, das ihm das Gefühl gibt, er müsse sich erklären. Oder verteidigen. Für was? Ist er vielleicht schuld daran, dass Siggi gegen sein Willen schwanger wurde? Was kann er dafür, dass sie ihn von dem Jungen fernhält? Nee, er wollte kein Kind, seine eigene Kindheit hat ihm gereicht.

Sandra hört interessiert zu. Sie legt den Kopf schräg dabei, wie eine Mutter. Eigentlich müsste er sie jetzt nach ihrem Leben fragen, aber er verpeilt es irgendwie, spricht lieber über dieses Mahnmal. Das für die Juden. Oder die Behinderten? Er bringt es immer durcheinander. Und jetzt wollen sie noch eines bauen! Peter weiß nicht genau, was ihn daran stört. „Es sollte mal Schluss sein damit“, erklärt er ihr. „Ist doch jetzt vorbei, 70 Jahre her. Total überflüssig, ewig daran herum zu mahnen.“

Sandra guckt erschrocken. Peter wirft angriffslustig die Haare zurück. Nee, er ist kein Diplomat. Sagt immer, was er denkt. Aber früher war es leichter. Da musste er nicht jedes Wort fünfmal im Mund herumdrehen. Früher gab es die Guten und die Bösen. Die Guten waren er und die irgendwie Linken, und die Bösen die Eltern und andere Konservative, Nazis undsoweiter. Jetzt sind alle nur noch liberal, und es gibt tausend Sprechverbote. Gender hier und *innen da. Natürlich ist Peter für Gleichberechtigung, aber dieses Genderzeug geht ihm auf den Geist. Die Leute reden, als hätten sie einen Sprachfehler, Maler-innen, Taxifahrer-innen. Als würden sie stottern! Da hat er keine Lust drauf, das macht er nicht mit. Es fuchst ihn, dass es nichts Eindeutiges mehr geben darf, nicht mal „Mann“ oder „Frau“. Eine dritte Toilette? Wo soll er denn dann bitte pinkeln? An vielen Klos darf man nicht mal mehr stehen – macht er trotzdem. Aus Protest. Das hat Ingrid auch immer geärgert. Als wenn er nicht zielen könnte! Von jüngeren Männern wird er verbessert, als hätten die die Weisheit mit der Kreide gefressen. Was wissen die denn! Manche tragen jetzt Lippenstift, Lidstrich oder Nagellack! Da weiß er dann gar nicht, wo er hingucken soll, so peinlich ist ihm das. Er ist ein normaler Mann, ein ganz normaler Deutscher. „Das darf es doch auch geben, verdammt?“ „Was denn?“ Peter hat nicht gemerkt, dass er laut gesprochen hat. „Der Genderstern ist der Stolperstein der Sprache“, sagt er statt einer Antwort, froh über sein Bonmot. „Von beiden gibt es zu viele.“

Sandra will etwas erwidern, doch er unterbricht sie mit seinem Lieblingseinstieg „Ich sag dir mal was -“. Zu spät merkt er, wie sie sich von ihm entfernt. Das erlebt er jetzt öfter, aber es rutschen noch mehr Sätze aus seinem Mund, die nicht gut ankommen, die sie von ihm wegtreiben. Ähnlich wie damals, bei seinem Vater. Peter musste einfach widersprechen, musste etwas Anderes sagen, als der Alte hören wollte. Bis es knallte. „Ich lasse mir nicht den Mund verbieten.“ Schon gar nicht beim Thema Flüchtlinge. „Es sind zu viele“, sagt er zu Sandra. Tatsächlich wehrt er sich gegen das Gefühl, etwas fühlen zu müssen, dass er nicht fühlt: Mitgefühl? „Die können nicht alle zu uns kommen!“

„Aber die, die es versuchen, dürfen wir nicht ertrinken lassen!“, ruft Sandra.

„Sie müssen ja nicht kommen“, wehrt sich Peter. „Hier ist zu wenig Raum. Ich bin doch kein Rassist! Ich sag dir mal was. Als Kind habe ich ‚Negerküsse‘ gegessen, und ich sehe nicht ein, warum ich das nicht mehr dürfen soll. Nur weil so eine Sprachpolizei Patrouille geht.“

Sandra schaut sich beunruhigt um. „Ich habe das Gefühl, du bringst da was durcheinander“, sagt sie leise. „Wieso? Ich sage nichts Verbotenes, das kann ruhig jeder hören: NEGERKUSS, NEGERKUSS, NEGERKUSS-SS-SS“. Noch lauter ist Peter geworden, das wollte er gar nicht. „Eine Frau hat mal versucht, mir den Negerkuss auszureden. Wir saßen im Restaurant. Als ich zahlen wollte, war sie beleidigt. Weil ich für uns zahlen wollte!“ Peter verdreht die Augen. „Bist du auch so eine?“ „Eine was?“, fragt Sandra vorsichtig. „Na, so eine Feministin“.

„Naja, Gleichberechtigung ist mir schon wichtig…“, beginnt Sandra. Peter unterbricht: „Und deshalb darf ich dir nicht die Tür aufhalten oder in den Mantel helfen?“

Sandra lächelt, immerhin. „Also, ich mag es schon auch, wenn erstmal der Mann bezahlt“, gibt sie zu, „nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Nettigkeit…“ Ihre Stimme ist sanft, und ihr Lächeln ist schön.

Blöd nur, dass er kein Geld dabeihat. Weil er aktuell etwas klamm ist. Was für eine Scheiße.

„Ehrlich gesagt, bin ich da ein bisschen widersprüchlich“, gibt Sandra zu. Wieder lächelt sie.

Peter wechselt das Thema. „Wir haben echt Glück hier, in dieser Gegend“, meint er dann, „hier wohnen nicht so viele Ausländer.“ Sandra zuckt zusammen.

„Du, das sagt man eigentlich nicht mehr.“

„Was?“

„Ausländer“

„Warum?“

„Es ist diskriminierend.“

„Ich sag dir mal was, Sandra, ich habe nichts gegen Ausländer“, dröhnt Peter. „Mich stört nur, wenn es von einer Sorte so viele sind!“

„Warum?“ Sandra verschränkt die Arme.

„Weil die sich nicht anpassen, an unsere Kultur.“ Peter merkt selbst, dass er aggressiv klingt.

Das Gespräch stockt.

„Ehrlich gesagt, wäre ich beinahe eben gegangen, als du mir von dem Mahnmal sprachst“, meint Sandra endlich. Er sieht, dass es ihr nicht leichtfällt. „Wieso denn?“

„Die Deutschen haben Schlimmes getan. Die Erinnerung an den Holocaust ist und bleibt wichtig, gerade heute, wo so viel ideologisches Gift herumfliegt.“

„Du redest wie ein Politiker“, beschwert sich Peter.

„Da war doch auch das Attentat auf die Synagoge in Halle, weißt du nicht mehr?“

„Ich war nicht dabei“, meint er nur.

„Wir müssen uns an unsere Verbrechen erinnern, damit wir sie nicht wiederholen. Das hat auch unser Bundespräsident gesagt“, versucht Sandra weiter.“

„Ich habe kein Verbrechen begangen“, sagt Peter trocken.

„Natürlich nicht“, versetzt Sandra, „aber wir sind Deutsche, wir sind verantwortlich für das, was unsere Eltern, Großeltern, unsere Landsleute getan haben.“

„Ich kenne die Leier“, widersetzt sich Peter. „Mein Vater war Nazi! Bei uns zuhause herrschte Kommandoton. Überall lag Nazikram rum, Armbinden, alte Münzen… sogar ein Hitlerfoto! Der hat noch an den Führer geglaubt, als alles vorbei war! Aber ich habe nichts damit zu tun. Und ich will mich auch nicht dafür schuldig fühlen! Ich sag dir mal was, es fühlt sich scheiße an, sich schuldig zu fühlen. Es ist unfair. Es ist lange her. Finito! Ende Gelände! Was wollen wir mit noch einem Mahnmal? Total überflüssig. Punkt!“

„Wie lange sind denn 75 Jahre?“, will Sandra wissen. „Und wie lange haben die Nazis damals gebraucht, um die ganz normalen Deutschen gleichzuschalten? Ein paar Jahre? Dabei war vorher Demokratie! Meinungsfreiheit. Menschenrechte. Aber die Nazis haben so lange schlimmes Zeug geredet, bis es ganz normal geworden ist, das Schlimme. Und als es normal war, haben all die ganz normalen Deutschen das Schlimme auch getan – und nebenbei Europa in Schutt und Asche gelegt.“ Sandra ist ganz rot geworden. Peter sagt ihr das. Es gefällt ihm, eine Frau darauf hinzuweisen, wenn sie rot wird. Weil sie dann noch röter wird. Sandra schüttelt verärgert den Kopf.

An den Tisch neben ihnen hat sich ein Behinderter im Rollstuhl herangerollt. Ein junger Mann füttert ihn mit Nudeln.

Peter muss ständig hinsehen.

„Eklig ist das“, flüstert er.

„Was denn?“, fragt Sandra verständnislos.

„Na, wenn die gar nichts mehr alleine können – nicht mal essen!“ Er erzählt von einer Bekannten, die seit einem Unfall im Koma liegt. „Der Mann muss ihr den Po abputzen!“, erregt sich Peter. „Bei dem schwerbehinderten Sohn einer Freundin ist es genauso. Das ist doch unwertes Leben!“

Diesmal reagiert Sandra schnell: „Es gibt kein unwertes Leben, Peter, das darfst du nicht sagen. Das ist ein Hitlerwort.“ „Jaja, ich weiß, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt.“

„Es geht nicht nur um korrekte Ausdrucksweise“, sagt Sandra. „Wer solche Sachen sagt, denkt auch so. Dass es wertvolles Leben gibt, und wertloses, und dass irgendjemand darüber zu entscheiden hat, vielleicht sogar du?“

Peter hört nicht richtig zu, weil er noch darüber nachdenkt, ob es tatsächlich besser wäre, denen den Saft abzudrehen. Also denen, die gar nichts mehr können – nicht allen! Nur dem unwerten Leben.

„Ich glaube, dass solche Worte Unheil anrichten“, redet Sandra weiter, „die nisten sich im Gehirn ein und stecken die Gedanken an, und die Gefühle. Das ist wie ein Virus, oder wie ein Gift. Ideologisches Gift halt! Genau, wie der Bundespräsident gesagt hat. Nazigift, in diesem Fall.“

„He, ich bin doch kein Nazi! Ich sage nur meine Meinung! Vielleicht kann ich mich nicht so gedruckt ausdrücken, aber ich bin einfach nur ein normaler deutscher Mann, der sagt, was er denkt – ist das auch nicht mehr erlaubt, oder was?!“

„Ich habe eine behinderte Schwester“ sagt Sandra. Sie schaut ihn an wie eine Schlange, bevor sie das Kaninchen verschlingt – und gleichzeitig wie das Kaninchen. Wovor hat sie Angst?

Peter schweigt.

„Ist sie für dich auch unwertes Leben?“

„Wie behindert ist sie denn?“, lautet seine Gegenfrage.

Da steht Sandra auf und geht. Was für eine Scheiße. Und wer zahlt jetzt die Rechnung?

 

Impressum  Letzte Änderung:  Mo., 28. Okt. 2024

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