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Deutsch als Fremdsprache

Peggy Leiverkus

Der Philosoph

Er hat sich mir gleich vorgestellt, als ich mich an den großen runden Tisch setzte. Brille, Hemd, vergessen. Einer von vielen.

 

Sveta und Violetta promovieren in zeitgenössischer Kunstgeschichte. Die kühle Blasse aus dem Norden und die leidenschaftliche Dunkle aus dem Süden. Andreas schreibt Programme für Patientenbefragungen. Sollte stattdessen für Hollister modeln, finde ich. Sind seine Schläfen schon ein bisschen grau?

Wir sitzen in einem Workshop über Zukunftsgestaltung nach der Promotion. Warum wir in Deutschland unseren Doktor machen, ist die Einstiegsfrage.

Naja, sage ich, eine der wenigen Deutschen hier, ich schätze, weil meinen Mann das traurig machen würde, wenn ich jetzt in Frankreich oder England wäre. Ohne ihn.

Meine Antwort überrascht die Runde, aber ganz abwegig ist sie wohl auch nicht. Sveta hat ein ähnliches Problem und ist froh, eine Gleichgesinnte gefunden zu haben. Die letzten Jahre habe sie in den USA gelebt, bis ihr Freund einen Job in Deutschland gekriegt habe, und sie – naja, so macht man das eben.

Wäre ich Single, sage ich, wäre ich schon längst irgendwo anders – aber so macht man das eben.

 

Nachmittagsrunde. Die Hitze schleicht sich durch die offenen Fenster und die Konzentration lässt nach. Neue Tische, neue Gesichter. Ein Typ sitzt zwei Plätze von mir entfernt und spricht mich an. Kenne ich irgendwoher.

Ach, wir haben uns doch vorhin schonmal gesehen, sage ich. Du bist – tut mir leid, aber hier sind so viele, die aussehen wie du – ich meine – blond, Brille – schickes Hemd. Oh weh.

Er lacht und sagt, immerhin gehöre ich dann zu der gutaussehenden Gruppe, oder?

Ja, sage ich und muss auch lachen. Benjamin, das ist sein Name. Benjamin ist Philosoph. Kommt aus Dresden, lebt aber in Prag. Sveta setzt sich zwischen uns, der nächste Vortrag beginnt. Wir sprechen später, sagen unsere Blicke.

Der Nachmittag zieht sich. Wie bin ich in der Arbeitsgruppe gelandet, die sich mit Digitalisierung in der doktoralen Ausbildung befasst? Violetta und Andreas sitzen auch am Tisch. Violettas italienisches Blut ist ständig in Wallung, sie kann sich für jedes Thema begeistern. Andreas trägt mit seinem charmanten Surferlächeln hier und da etwas Erheiterndes bei. Ich halte mich zurück und taste gelangweilt nach meinem Ehering. Ach, den habe ich ja zu Hause gelassen.

In der nächsten Stunde ermahnt uns eine alte Amerikanerin, dass wir unser Wissen endlich wieder in Macht umwandeln müssen. Ihre leidenschaftliche Art zieht mich in den Bann, was sind wir Deutschen doch immer so nüchtern. Ich fühle mich bestärkt. Ich bin klug. Ich kann etwas bewirken. Andere Stimmen beklagen sich, der Vortrag sei triefend vor Pathos.

Make science great again, exklamiere ich still und freue mich, nicht wie alle anderen zu ticken.

 

Abend. Sveta, Violetta und ich setzen uns an einen Tisch, das Buffet ist eröffnet. Jazzmusik im Hintergrund. Ein muskulöser Kellner reicht Getränke herum, wir greifen zu. Er schreitet durch den Raum, als wäre er der Star des Abends. Ob man den gecastet hat, um hier servieren zu dürfen? Wir kichern. Das prickelnde Getränk in meiner Hand entpuppt sich als französischer Cidre, sauer und herb. Auch den wenig sättigenden Häppchen können wir nicht viel abgewinnen.

Ob wir uns später noch sehen, frage ich und schaue auf die Uhr. Habe mir noch eine Verabredung dazwischengequetscht, wenn ich schonmal hier bin. Bloß nichts verpassen!

Moskau und Rom wollen die Stellung halten, und die wichtigen Allianzen, so versichern sie mir, würden sowieso stets erst nach Mitternacht geschlossen.

Mit dem erhebenden Gefühl, neue Verbündete zu haben, husche ich hinaus.

 

Drei Stunden später. Sveta hat mir ein rätselhaftes Foto geschickt. Rate, wo wir sind. Natürlich kenne ich mich aus und hüpfe ganz selbstverständlich die Stufen zu dem kleinen Park hinunter, an die Spree.

Alle freuen sich, dass ich noch gekommen bin. Benjamin ist auch da. Der Philosoph. Auf dem Tisch stehen massenweise leere Bierflaschen, aber mir wird versichert, dass die schon vorher dort standen. Andreas und Benjamin gehen Getränke holen. Ich bekomme ein Glas Weißwein. Sehr aufmerksam. Wir reden über dies und das, mehr als den Inhalt unserer Gespräche genieße ich jedoch das Gefühl, einfach hier zu sitzen mit diesen fremden Menschen, im vertrauten Berlin.

Irgendwann brechen wir auf. Für die vielen Flaschen haben wir an der Bar ein Vermögen von vier Euro fünfzig bekommen. Der Philosoph schlägt vor, dass wir davon ja noch was Schönes im Späti kaufen könnten. Während die Damen draußen warten, stehe ich mit den beiden Männern vor dem Kühlregal und führe ein Fachgespräch darüber, welches alkoholische Getränk dem Anlass angemessen wäre. Ich bin für Feige, Benjamin für Vodka, Andreas bewacht das Geld. Ich entscheide mich schließlich demokratisch für englischen Cider, um Rache an dem französischen Gesöff von vorhin zu üben. Das Geld reicht für eine Flasche, der Philosoph zeigt sich großzügig und spendiert eine zweite.

Wie eine Horde Teenager schlendern wir durch die Nacht und reichen die beiden Flaschen herum. Ob das da drüben eine Prostituierte ist, frage ich. Sveta beruhigt mich, die Dame wartet bestimmt nur auf ein Taxi.

Unschlüssig bleiben wir vor unserem Hotel stehen. Habt ihr auch so einen großen Pornospiegel im Zimmer, frage ich.

Pornospiegel? Nein.

Ich habe auch eine Riesendusche, fahre ich fort. Kurzerhand entscheidet der Rest der Gruppe, das müsse man sich bei einer Zimmerparty genauer ansehen.

Vier zwei sechs. Bis gleich, sage ich.

 

Alle verschwinden auf ihren Gängen, ich räume hastig Socken und Unterwäsche beiseite. Mein Herz klopft schneller als sonst. Das erste Mal seit langer Zeit fühle ich mich so alt, wie ich wirklich bin. Oder jünger. Als ich mich gerade dafür entschieden habe, meine Füße abzuduschen, klopft es verhalten an der Tür. Andreas überreicht mir als Gastgeschenk eine Schachtel Erdbeeren und Bier.

Schuhe aus, sage ich. Wenig später meldet sich Benjamin an.

Deine Haare sind noch vom Duschen nass, stelle ich fest.

Ach, sieht man das, fragt er und hält mir eine Flasche Weißwein entgegen. Da der Stuhl von Andreas besetzt ist, steuert der Philosoph auf das Bett zu. Die Damen treffen ein, Sveta setzt sich zu uns aufs Bett, Violetta bleibt stehen und berichtet aufgebracht, dass sie zuerst beim Nachbarzimmer geklingelt habe. Der Mann in Unterhose sei ihr nicht bekannt vorgekommen, also habe sie es nebenan nochmal versucht. Gottseidank, sind wir uns einig, ist sie doch noch auf der richtigen Party gelandet.

Ich öffne das Fenster zum Hof, die Luft ist immer noch warm, als wäre es Juni, dabei ist es nicht mal Mai. Der Philosoph bestaunt den Pornospiegel, der die gesamte Wand ausfüllt. Um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, will er ein Foto mit mir vor dem Spiegel machen. Wir sitzen auf der Bettkante, ich halte sein Bier. Er legt den Arm um meine Hüfte, mit der anderen Hand fummelt er am Auslöser seines Smartphones herum. Wir beide sind gut getroffen, nur den Spiegel sieht man nicht. Er ist so groß, dass die Ränder nicht mehr auf das Foto passen.

Violetta und Sveta müssen morgen früh nach Köln. Am Hauptbahnhof wird allerdings eine Fliegerbombe entschärft, ihre Züge fallen aus. Wir arbeiten an einem Plan, die beiden über Gesundbrunnen nach Spandau zu schleusen, um dort den ICE abzufangen. Violetta verabschiedet sich, um ihr Blut abzukühlen und sich seelisch auf die anstehende Reise vorzubereiten. Ein Quartett, bestehend aus Andreas, Sveta, Benjamin und mir, bleibt übrig.

Benjamin geht auf die Toilette. Aber nicht meine Zahnseide benutzen, sage ich.

Warum denn nicht?, fragt er.

Später machen wir beide es uns auf dem großen Bett bequem, Sveta sitzt auf der Kante und unterhält sich mit Andreas.

Deine Hose hat eine schöne Farbe, sagt der Philosoph. Ich werfe einen Blick darauf. Sie ist zartrosa. Ich schäme mich für meine dicken Beine und für die kurzen Stoppeln, die ich an meinen Fußgelenken bemerke.

Ja, sage ich, stünde dir auch gut.

Oder?, sagt er und stellt Überlegungen über Rosatöne in moderner Herrenkleidung an.

Du bist ja eher monothematisch gekleidet, stelle ich fest. Schwarz in schwarz. Sollten mehr Männer tragen, denke ich.

Aber deine Brille, fahre ich fort. Die ist schon – retro.

Gut, oder?, sagt er. Normalerweise trage ich eher so eine wie Andreas. Ein Seitenblick auf die Unterhaltung am anderen Ende des Bettes. Aber die hier fand ich irgendwie schick. Nicht?

Ich scheitere an dem Versuch, eine diplomatische Lüge vorzubringen. Sowas hat mein Vater in den Neunzigern getragen, wahrscheinlich schon in den Achzigern, sage ich.

Törnt dich also ab?

Ja, ziemlich.

Naja, sagt er, die 80er sind wieder in. Das muss ich einsehen und nehme noch einen Schluck Weißwein.

Die Plätze wechseln, Wein wird nachgeschenkt, Bier ist alle. Nachdem der Philosoph sich eine gefühlte Ewigkeit mit Sveta auf der Bettkante unterhalten hat und ich die letzte Erdbeere vernascht habe, verabschiedet sich Andreas. Zu dritt lümmeln wir auf dem großen Bett, beobachtet vom Pornospiegel. Benjamin stellt sich auf die Matratze und untersucht die Funktion des überdimensionerten Kopfteils. Nach einer konstruktiven Erörterung resümiere ich, dass man wohl das Gefühl bekommen soll, sich wie ein kleiner König zu fühlen. Bedächtiges Nicken.

Plötzlich geht es um Poesie. Sveta hat auf dem Tisch meine Ausgabe von Ovids Liebesgedichten gefunden. 2000 Jahre alt, aber immer noch heiß. Ich lese eines vor, die Geschichte von der weißen Kuh, die von einem geilen Stier verfolgt wird. Der Philosoph unternimmt einen Interpretationsversuch, wir lachen. Während Sveta versucht, ihr russisches Lieblingsgedicht zu memorieren, blättern Benjamin und ich weiter in Ovids erotischem Büchlein.

Guter Stoff, sagt der Philosoph und mustert mich mit Kennerblick. In diesem Moment findet Sveta ihre Verse auf dem Smartphone, irgendwas mit Frühling und Natur. Es klingt wunderschön aus ihrem Mund. Russisch ist wahrlich eine Dichtersprache, denke ich. Dann trägt der Philosoph ein Gedicht von Rilke vor. Natürlich. Ein Rilkeliebhaber.

Schön, nicht?, sagt er und wir nicken ergriffen. Das scheint für Sveta ein würdiger Abschluss des Abends zu sein und sie lässt uns allein.

 

Der Philosoph macht keine Anstalten, seinen neuen Thron zu verlassen. Er habe ja mal in Frankreich gelebt. In Paris.

Wie lange?, frage ich.

So ein Jahr.

Natürlich. Prag, Paris, kann Rilke rezitieren. Bedächtig nimmt er die schreckliche Brille vom Gesicht, klappt sie zusammen und legt sie auf den Nachttisch. Ich greife mir eines der wurstigen Kissen und mache es mir ebenfalls auf dem Bett bequem. Ist ja groß genug.

Worüber hast du jetzt deine Doktorarbeit geschrieben, frage ich und gähne. Er zögert. Will es offenbar verständlich für mich machen.

Hegel kennst du, oder?

Oh je, eine Fragestunde. Ich denke an die langen kryptischen Texte, die ich noch vor zwei Jahren mit meinen Elftklässlern durchgenommen habe.

Dunkel, sage ich vorsichtig. Er guckt mich erwartungsvoll an, das überdimensionierte Kopfteil hinter ihm ebenfalls. Ich winde mich etwas.

Naja, sage ich, du kannst es mir gerne nochmal erklären.

Ja?, fragt er.

Ja, sage ich. Er steht auf und geht zur Toilette, dabei streift seine Hand mein Bein.

Zufällig.

Eigentlich ist die Arbeit ja über Wittgenstein, sagt er, während er im Bad verschwindet.

Oh Gott, sage ich. Da guckt er wieder zur Türe raus.

Von dem kenn ich nur den Namen.

Ja?, fragt er und setzt sich zu mir auf die Bettkante. Ziemlich nah. Ich schaue zu ihm hoch, ein Augenblick vergeht, dann zwei.

Geh doch erstmal auf die Toilette, sage ich und richte mich auf. Er geht. Kommt zurück. Ich habe meine Pennälermiene aufgesetzt und lasse mir brav noch ein Glas Wein einschenken, als er sich wieder aufs Bett setzt. Legt.

Wie ist denn das jetzt mit Wittgenstein?, frage ich. Und was hat Hegel damit zu tun?

Er schaut mich an. Setzt die Brille wieder auf. Und erklärt. Gar nicht verschwurbelt oder kompliziert. Verstehen tu ich es trotzdem nicht. Seine Hand streichelt mein Knie. Ich starre einen Moment in mein Glas und drücke ihm mein Kissen in die Arme. Sie umschließen es, als wollten sie es nicht mehr hergeben. Er erzählt weiter. Hegel und Wittgenstein wirbeln in meinem Kopf herum.

Das ist mir zu abstrakt, gestehe ich irgendwann und bette den Kopf schläfrig auf das zweite Kissen. Mein Blick wandert halb leer in Benjamins Richtung. Der linke Zipfel seines Hemdes ist etwas hochgerutscht. Ein schwarzer Knopf. Zwei schwarze Knöpfe. Drei. Ich nehme mein letztes bisschen Verstand zusammen, richte mich auf.

Ich kapier gar nichts mehr, ich muss dich jetzt rausschmeißen und schlafen.

Er schaut mich an.

Ja?

Ja.

Der Philosoph schaut mich an, vom anderen Ende des großen Bettes. Das schwarze Hemd bildet einen scharfen Kontrast zu der weißen Bettwäsche.

Ich dachte, ich würde heute Nacht hier schlafen.

Ich starre ihn an. Philosoph, Pornospiegel und das überdimensionierte Kopfteil starren herausfordernd zurück. Vier. Fünf schwarze Knöpfe.

Ja?

Die Brille liegt wieder zusammengeklappt auf dem Nachttisch.

Ja.

 

Impressum  Letzte Änderung:  Mo., 28. Okt. 2024

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