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Deutsch als Fremdsprache

Evelyn Weyhe

Gracias a la Vida

Genüsslich schließe ich die Augen und gebe mich dem Gefühl der Schwerelosigkeit in dem warmen Wasser hin. Meine Gedankenströme fließen mit meinem gleichmäßigen Atmen. Es ist wunderbar, so zu schweben zwischen Schlaf und Wachsein. Keiner stört mich in dieser Phase der Ruhe. Manchmal höre ich Stimmen, laute und leise, auch Musik dringt gelegentlich an mein Ohr. Das alles stört mich nicht. Auch nicht das leise Schwappen des Wassers, das mich ab und zu schaukeln lässt. Ich lasse mich fallen. Ich vertraue und warte. Ich weiß nicht worauf.

Wie lange ich so daliege, weiß ich auch nicht. Zeit und Raum spielen keine Rolle für mich. Von Zeit zu Zeit drehe ich mich und habe plötzlich ein Gefühl der Enge, ich ziehe meine Beine an den Leib. Der Zeitpunkt ist nahe, ich spüre es. Aber auch das stört mich nicht. Das Gefühl der absoluten Geborgenheit bestimmt mein Leben.

Plötzlich ist alles anders. Von einem Augenblick auf den anderen. Etwas hat sich verändert in meinem Zustand des Schwebens. Laute Stimmen, klappernde, mir unbekannte Geräusche, ich spüre Hektik. Ich bin nervös, kann mir das nicht erklären. Keinesfalls will ich in meinem Kokon gestört werden. Ich verkrampfe mich, schließe die Augen, hoffe, dass das hilft. Aber es hört nicht auf. Ich spüre, wie ich mich ohne mein Zutun drehe, ich stehe auf dem Kopf, etwas drängt mich, diesem warmen Paradies zu entfliehen. Aber warum? Es ist himmlisch hier! Ich will nicht! Mein Kopf stößt an einen Widerstand, ich fühle krampfartige Schmerzen. Wieder und wieder dränge ich nach vorne, weiter und weiter. Mein Herz klopft, Panik macht sich breit. Was geschieht mit mir? Lasst mich, wo ich bin!

Dann der absolute Schock: Gleißendes Licht, Kälte, Lärm, mein Kopf baumelt nach unten, ich mache meinem Unmut mit einem gellenden Schrei Luft. Schon fühle ich wieder Wärme, werde mit warmen Tüchern abgerieben und sanft niedergelegt. Ich höre einen bekannten Herzschlag und weiß, dass eine neue Geborgenheit auf mich wartet. Ich blinzele mit den Augen, versuche mich mit der neuen Helligkeit anzufreunden. Ein völlig unbekannter Zustand nimmt von mir Besitz. Er spielt sich in der Magengegend ab. Meine Lippen machen ein schmatzendes Geräusch. Der vertraute Herzschlag kommt näher, mein Gesicht wird an einen warmen Körper gelegt, und eine köstliche Flüssigkeit schießt in meinen Mund. Ich sauge, als gäbe es kein Morgen, meine Augenlider werden schwer.

Ich träume von meinem Leben, das vor mir liegt. Alle Höhen und Tiefen, aller Schmerz, alle Freude, alle Abenteuer, alle Menschen dieses Lebens zeigen sich. Mein Mund verzieht sich im Schlaf zum Weinen, im nächsten Moment zu einem Lächeln. Sanft wird mein Gesicht gestreichelt. Ein Mund drückt sich auf meine Stirn.

Mein Leben wird schön!

Ich bin angstfrei geboren. Das hörte ich von meinen Eltern, seit ich denken kann. Kein Baum zu hoch, kein Wasser zu tief, keine Herausforderung zu schwierig.


Ich bin drei Jahre alt. Ich stehe auf dem Sofa schaue hinaus in das Inferno eines Sommergewitters mitten im bayerischen Voralpenland. Donner und Blitz entladen sich gleichzeitig, dunkel violette Wolken rasen am Himmel, Regen peitscht gegen das Fenster. Bedrohlich steht der Watzmann direkt vor unserem Haus. Fasziniert beobachte ich das Schauspiel, ohne Angst zu verspüren. Die Erinnerung ist vage, aber sie ist echt, denn Jahre später erzähle ich sie meinen Eltern, mit der genauen Beschreibung des Zimmers. Sogar die graue Felldecke und die Kissen kann ich beschreiben.

Ich liege im Garten auf dem Rücken. Über mir das fletschende Maul eines großen Hundes. Sein Speichel tropft in mein Gesicht. Ich rühre mich nicht, sehe ihn nur an. Und wieder verspüre ich nicht die geringste Angst. Der Mund, der sich auf meine Stirn gedrückt hat, hat mir für immer Liebe und Vertrauen geschenkt und ein Lächeln auf den Lippen.

Und so wie ich in die Welt lächle, lächelt die Vergangenheit zurück. Zeitreisen in ein fernes Leben. Bilder aus meinem Leben in Afrika halten mich noch heute gefangen. Bestimmte Töne, Gerüche, Melodien, treiben mir die Tränen in die Augen.

Die Sonne ist soeben aufgegangen. Wir haben den alten Kübelwagen gepackt und fahren Richtung Norden. Das Fahrzeug hat kein Dach, die frische Luft ist wie Sekt. Wir sind jung und verliebt und bereit, alle Abenteuer zu genießen. Der Kidepo National Park an der sudanesischen Grenze ist unser Ziel.

Die Sonne brennt auf das ausgedörrte Land. Wir haben die fruchtbare Ebene hinter uns gelassen und befinden uns auf einer Sandpiste, die schnurgerade nach Norden führt. Kleine Windhosen wirbeln Staub auf und fegen durch das Auto. Bernd merkt, dass die Bremsen nicht funktionieren. Umkehren? Nein, wir sind schon zu weit gefahren und hoffen, in zwei bis drei Stunden am Ziel zu sein. Es ist fast dunkel, als wir im Park ankommen. Wir sind hungrig und müde, erkennen, wie unbedacht wir gepackt haben. Nichts zu essen, nichts zu trinken, und jetzt, wo es dunkel und empfindlich kühl ist, fehlt eine Jacke. Bald sehen wir Lichter in der Ferne. Himmlisch, dann auf der kleinen Veranda der Lodge zu sitzen, kühlen Wein und das Abendessen zu genießen.

Der nächste Morgen bringt gute Neuigkeiten: Die Bremsen sind repariert! Wir wollen einen anderen Rückweg nehmen. Auf einer holperigen Straße fahren wir hinauf in das zerklüftete Gebirge, über 3000 Meter hoch. Seit Stunden sind wir keiner Menschenseele begegnet. Ich schließe die Augen und gebe mich meinen Gedanken hin.

Das erste was ich wahrnehme, ist die Stille. Über mir ein grünlicher Abendhimmel. Ich schaue umher. Das Auto liegt auf dem Dach, die Räder drehen sich noch langsam. Ich rufe nach Bernd. Unverletzt kriecht er unter dem Wagen hervor. Wir halten uns umfangen, froh, dass wir leben. Ein kleines Stück weiter, und wir wären tief in den Abgrund gestürzt. Die Bremsen haben nicht gehalten, und Bernd konnte den Wagen nur noch gegen den Hang fahren, um ihn zu stoppen. Meine Jeans sind bis oben aufgerissen, ich muss wie ein Geschoss aus dem Auto geflogen sein. Aus einer Kopfwunde läuft mir Blut ins Gesicht. Der Rücken ist aufgeschürft, winzige Steinchen stecken in meiner Haut.

Zitternd vom Schock warten wir in der hereinbrechenden Nacht auf ein Wunder. Dieses geschieht eine Stunde später in Form eines überladenen Sammeltaxis, das sich mühsam den Berg hinaufquält und anhält. Nach etwa halbstündiger Fahrt werden wir in einem verlassenen Dorf abgesetzt. Wir finden eine Grashütte mit einer Holzpritsche ohne Matratze. Ich liege auf dem Bauch und versuche die Schmerzen zu verdrängen. Ein scharfer Wind pfeift, es ist empfindlich kalt.

Mit der ersten Dämmerung stehe ich auf. Jemand hat eine Kalebasse mit Wasser hingestellt. Am Straßenrand warten wir auf ein weiteres Wunder. Es ist unglaublich heiß. Mein Rücken brennt wie Feuer und meine Kopfwunde schmerzt. Nachmittags hält ein Lieferwagen. Wir fahren an der Unfallstelle vorbei. Das Auto ist noch da, es fehlen sämtliche Räder.

Eintrag in meinem Reisetagebuch: „5.9.1973, Unfall im Kadam Gebirge.“

Zehn Jahre später ist dies der Todestag von Bernd.


Wieder in Deutschland. Die Jahre ziehen vorüber. Der Film stoppt. Eine andere Welt und eine anrührende Begebenheit.

Minusgrade. Schneetreiben. Glitzernde Schaufenster. Menschen, dicht vermummt mit hochgezogenen Schultern, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, eilen an mir vorüber. Ein scharfer Wind pfeift um die Häuser. Ich ziehe meinen Schal über das Gesicht und werfe mich gegen das Wetter. Nur schnell nach Hause. Es ist der 24. Dezember, und ich habe noch ein paar letzte Einkäufe erledigt.

Ich stolpere, kann mich gerade noch an einem kümmerlichen Winterbäumchen festhalten. Ein mittelgroßer Hund liegt zitternd auf dem Gehweg, daneben ein Teller mit einem Pappschild: Bitte um eine Spende für meinen Hund, er braucht dringend Futter! In diesem Moment kommt eine zerlumpte Gestalt um die Ecke. Die einzige wintergerechte Kleidung besteht aus einer dunkelblauen Wollmütze. Seinen dünnen Anorak hält der Mann mit der einen Hand vorne zusammen, in der anderen hat er eine Papiertüte. Ich bleibe einem inneren Impuls folgend stehen. Ängstlich schaut der Mann mich an. „Gibt es Probleme?“ Seine Augen wandern von seinem Hund, der schwach mit der Rute wedelt und zu seinem Herrchen hochschaut, zu mir. „Nein, gar nicht“, beruhige ich ihn, „ich habe mich nur gefragt, wo sein Besitzer ist.“

Wir reden und ich erfahre, dass der Mann obdachlos ist und auch für diese Nacht kein Unterkommen hat. In dem Obdachlosenheim darf man keine Hunde mitbringen. Ich schaue ihn mir näher an. Alterslos, ein offener Blick aus braunen Augen. Traurig sieht er aus. Spontan lade ich ihn in die Kneipe nebenan zu einer Mahlzeit ein. Der Hund schläft unter dem Tisch, nachdem er den Inhalt der Tüte gefressen hat. „Der Metzger schenkt mir immer Reste für ihn“, erklärt mir der Mann. Er stellt sich als Rainer vor. Ich erfahre seine Geschichte. Eine von vielen gescheiterten Existenzen, die unverschuldet in der Gosse landen.

Er schaut mich an. „Du bist traurig“, stellt er fest. Ich sitze an diesem Kneipentisch, lasse meinen Tränen freien Lauf, weine meinen Kummer in die Serviette. Mein Mann ist dieses Jahr gestorben, wir hatten so viele Pläne und Träume. Ich bin mit meinen beiden Kindern in Hamburg zu Besuch bei Freunden.

Rainer nimmt meine Hände in seine. Er tröstet mich mit lieben Worten. Jemand der eigentlich jeden Trost der Welt bräuchte, ist fähig, so viel Liebe zu geben. Das erste Mal in diesen Tagen wird mir weihnachtlich zumute.

Ich rufe meine Freunde an, erzähle in kurzen Worten den Grund für meine Verspätung. „Wo ist das Problem? Bring ihn mit, den kriegen wir auch noch satt. Und schlafen kann er im Wohnzimmer auf dem Sofa.“ Meine Super-Freunde!

Wir machen uns auf den Weg. Rainer hat im Leben auf der Straße gelernt anzunehmen. Er strahlt. Der Wind hat nachgelassen. Lautlos rieseln dicke Flocken auf uns nieder. Der Hund läuft voraus und springt schnappend dem weißen Wunder entgegen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag fühle ich mich endlich in Weihnachtsstimmung. Ich hake mich dankbar bei Rainer unter, und wir singen mit frohem Herzen, laut und etwas falsch, alle Weihnachtslieder die wir kennen.


Ein facettenreiches Leben, so abenteuerlich, so spontan, so wild, für das ich nur dankbar sein kann. Wieder zurück in Afrika.

Ich liege ausgestreckt auf mit roten Bohnen gefüllten Säcken. Das monotone Summen der großen Hercules Frachtmaschine macht mich schläfrig. Den kleinen Rucksack mit 150.000 Dollar Projektgeld in bar nutze ich als Kopfkissen. Sieht gebündelt gar nicht so viel aus. Wenn sie mich bei der Einreise in den Congo damit erwischen, habe ich keine Chance, ungeschoren davonzukommen. Ich bin über alle Risiken informiert. Trotzdem habe ich den Auftrag meiner Organisation angenommen.

Der Pilot beginnt den Sinkflug. Ich setze mich auf den Notsitz, um mich anzuschnallen. Eine Rinderherde spaziert langsam über die Landepiste. Gekonnt reißt der Pilot die Maschine mit heulenden Triebwerken nochmals hoch. Mein Magen macht einen erschreckten Satz. Endlich landen wir. Ich steige mit gemischten Gefühlen aus.

Ein Tisch mit einem löcherigen Sonnenschirm dient als Ankunftshalle. Der Beamte nimmt seine Aufgabe sehr ernst, und ich muss meine Personalien ausführlich in ein langes Journal eintragen. Er macht eine Handbewegung zu seiner Gurgel und fragt nach einer Fanta. „Er meint einen Dollar“, raunt mir ein erfahrener Congo-Reisender von hinten ins Ohr. Gott sei Dank habe ich auch ein paar lose Dollars in der Hosentasche. Als er den Inhalt meines Rucksacks sehen will, wird mir kurz schwarz vor Augen. Kleidung und Waschzeug, murmle ich und ziehe als Beweismittel meinen BH, den ich im Flugzeug ausgezogen habe, hervor. Die Leute hinter mir kichern. Er winkt mich durch.

Der Rest des Tages wird mir unvergesslich bleiben. Unser Projektleiter fährt mit mir durch das fast 80 km lange Flüchtlingscamp. Ein Inferno von unglaublichem Ausmaß. Eine Cholera-Epidemie ist ausgebrochen. Menschen sitzen am Straßenrand, verrichten ohne Scham ihre Notdurft, endlose Schlangen an den Zelten vom Roten Kreuz, Leichenberge am Straßenrand, die von freiwilligen Helfern mit Kalk überschüttet und auf Pick-ups geladen werden, andere Menschen häufen Kleidung und Schuhe der Toten als Tauschware am Straßenrand auf, dazwischen spielende Kinder, Berge von Gemüse. Über allem der Gestank des Todes. Bagger kratzen Erdreich von den Bergen, um die Massengräber damit zu bedecken. Ein überladener Pick-up kommt uns mit überhöhter Geschwindigkeit entgegen. In einem Schlagloch schleudert er zur Fahrbahnmitte. Menschen fallen wie reife Früchte von der Ladefläche. Alles grölt vor Lachen.

Der Projektleiter hat einen Tisch in einem schönen, kolonialen Restaurant reserviert. Wir essen Flusskrebse und trinken kühlen Weißwein dazu. Surreal.

Am airstrip warte ich auf eine Gelegenheit, nach Nairobi zurückzufliegen. Es ist eine russische Antonov. Eingeklemmt zwischen Gepäck sitze ich auf einem Notsitz. Ein Steward trägt Tabletts mit Bier und Vodka nach oben ins Cockpit. Ich schließe die Augen, schlimmer kann es nicht werden. Auch die entsprechende Kamikaze-Landung bringt mich nicht aus der Ruhe.

Ich fühle nur Dankbarkeit, dass ich nicht in so ein Leben geboren wurde.

 

Danke an das Leben, das mir so viel geschenkt hat.

Es gab mir zwei Sterne, die, wenn ich sie öffne,

Mich perfekt Schwarz von Weiß unterscheiden lassen

Und am hohen Firmament die Sterne erkennen lassen

Und in der Menge die Menschen, die ich liebe.

 

Mercedes Sosa „Gracias a la Vida“

 

Impressum  Letzte Änderung:  Mo., 28. Okt. 2024

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