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Deutsch als Fremdsprache

Monika Buschey

Die Wörter der anderen

(Eine gesprochene Version der Geschichte findet sich auf den Seiten der ARD Audiothek in einer Produktion des WDR vom 25. Mai 2024)

 

Es müsste möglich sein, die verbleibende Zeit schriftlich festzuhalten. Vielleicht kommen noch etliche Jahre zusammen, wer weiß. Er würde jeden Tag einen Satz schreiben.

Oder zwei Sätze.

Eine Spur in die Zukunft, eine schmale Spur aus Wörtern, die bestehen blieben.

Die Wörter bleiben bestehen.

Er könnte beschreiben, was er sieht. Was er vom Fenster aus sieht.

Jeden Tag.

Damit ein Tag nicht unbemerkt vergeht.

Impressionen, weiter nichts.

Der Ausblick ist alles andere als spektakulär. Er weiß, was spektakuläre Ausblicke sind. Als begeisterter Wanderer, der er war, hat er die Höhen der Eifel nicht weniger geliebt als die Alpen.

Drei Zinnen, der Rosengarten, das Wettersteingebirge, der Ortler, die Dreischusterspitze…

Heute fragt er sich, ob sie noch da sind, die Alpen, wo er sie so lange nicht gesehen hat.

Zehn Jahre, vielleicht schon fünfzehn Jahre nicht mehr.

 

Vom Fenster aus sieht er die Straße. Eine Vorortstrasse. Jede Stunde ein Bus. Sträucher, Bäume. Auf der anderen Seite Eichen.

 

Früh am Morgen. Stille. Es soll Schnee geben. Man spürt das.

Er radiert die beiden letzten Sätze wieder aus.

Früh am Morgen. Stille.

Reicht doch!

Er schreibt mit Bleistift. Der liegt ihm gut in der Hand, immer schon. Die Bleistiftspur ist leicht zu tilgen.

 

Anne würde den Kopf schütteln, wüsste sie, was er tut. Müßig darüber nachzudenken. Anne ist tot. Anne war krank. Erlösung. Alle haben das gesagt: Erlösung. Mit dem Wort hat er sich betäubt. Keine Hilfe mehr möglich. Außerdem war er damals sehr verliebt. Jedenfalls schien es so. In die Frau, mit der er noch immer verheiratet ist. Annes Tod erlöste sie von ihrem Leiden und ihn von ihr. So hat es ausgesehen.

In den Armen der anderen Frau um den Verlust der ersten zu trauern empörte einige Leute. Heuchler, befand er.

Dass du dich nicht schämst, sagte seine Tochter.

Heute denkt er, er hätte öfter mit ihr sprechen sollen, mit Anne.

Die Toten sind nicht fort.

Die Lebenden haben zu tun.

Die Toten sind immer da.

 

Er krümelt beim Essen, er kleckert. Das weiß er, ohne es verhindern zu können.

 

In Gesellschaft gehen Gespräche seit langem über ihn hinweg. Will er zum jeweiligen Thema doch einmal etwas beisteuern, eine Beobachtung oder eine Anekdote, legt er sich die Worte genau zurecht, bevor er spricht. Anekdoten sind besonders heikel, weil die Pointe stimmen muss. Sobald er den Mund aufmacht, schweigen die anderen erschrocken. Es wird ihnen bewusst, dass er noch da ist. Beginnt er zu reden, hören sie ihm betroffen zu. Stockt er - trotz der sorgfältigen stummen Vorbereitung - halten sie sich zurück. Niemand will den Alten vor den anderen korrigieren. Dabei wäre er dankbar für das entsprechende Stichwort. Sie nicken ihm ermutigend zu, wie einem Kind, dem beim Gedichte-Aufsagen eine Zeile fehlt. Er flüchtet sich in eine Umschreibung und findet wieder ins Fahrwasser seiner Geschichte zurück. Alle sind erleichtert. Wobei das, was er erzählt, in einen früheren Zusammenhang gehört hätte. Die Tischrunde ist ja längst bei einem anderen Thema angekommen. Er schweigt wieder.

Einen weiteren Anlauf wird er heute nicht mehr machen.

 

Isabell ist ihm eine gute Frau. Geduldig, sanft. Dass er sie nach seinem Tod gut versorgt weiß, beruhigt ihn. Sie ist jünger als er, doch nicht mehr jung. Zwanzig Jahre jünger sein als ein 87jähriger ist immerhin Rentenalter. Er sieht die Flecken auf ihrem Handrücken. Das Grau, das allmählich überhandnimmt im dunklen Haar.

 

Sein Husten geht ihr auf die Nerven. Ein Überbleibsel aus seiner Zeit als Raucher.

 

Er schläft im Sitzen ein. Für Sekunden nur. Indem sein Kinn auf die Brust sinkt, wacht er auf. Erschrocken und beschämt.

 

Was ihn schier rasend macht: Ihre Nachsicht, wenn er scheitert.

Er hat das Licht im Keller angelassen. Schon wieder. Nicht so schlimm, sagt sie. Das kann jedem passieren.

 

Als er neulich an der Ausfahrt vorbeigefahren ist - er wohnt seit vierzig Jahren in dieser Wohnung, er sollte den Weg im Schlaf kennen -, hat sie nichts gesagt. Warum hat er es ihr überhaupt erzählt? Weil er durch das Ausfahrt-Verpassen einen Umweg machen musste und zu spät kam. Und sie brauchte den Wagen, das hatte sie ihm gesagt. Kein Wort von ihr diesmal, als er endlich zu Haus ankam. Das war ihm auch wieder nicht recht.

Kann doch mal passieren!

Ich sage ja nichts, sagt sie. Sie wusste nicht einmal, dass er in eine Baustelle reingebrettert war. Dass er einem Graben gefährlich nahe gekommen war.

Ist ja nochmal gutgegangen!

Sie hat ihn lange angesehen. Und dann gesagt, ich möchte nicht, dass du noch Auto fährst. Dabei gehört der Wagen ihm. Der Schlüssel hängt seither nicht mehr am Haken.

 

Riecht er schlecht? Manchmal denkt er, er riecht schlecht.

Mürbe irgendwie, ranzig.

Er steckt das Gesicht in die Armbeuge. Vielleicht das Waschmittel.

 

Er hätte es nicht riskieren dürfen, niemals. Aber als ihm klar wurde, dass die Arthrose sich verschlimmern würde, dass sich überhaupt alles verschlimmern würde, wollte er es unbedingt noch einmal durchziehen. Mit dem Zug in die Eifel, kleiner Rucksack, wenig Proviant. Den Tag über wandern und zum Abend ein Quartier suchen.

Ganz allein.

Hättest du doch gerne machen dürfen – Isabell war außer sich gewesen vor Sorge um ihn. Warum sagst du mir nicht Bescheid, ich hindere dich doch nicht!

Er wagte nicht zu sagen, wie sehr er es genossen hatte, dass niemand wusste, wo er war.

 

Er ist noch gut zu Fuß, findet er, trotzdem stellt er fest, dass Isabell Restaurants danach aussucht, ob die Toiletten ebenerdig zu erreichen sind. Es verringert die Auswahl beträchtlich.

 

Anne hat, als sie heirateten, seinen Nachnamen übernommen: Schmiet.

Ganz selbstverständlich.

Frauen seiner Generation waren froh, die eigene Familie mit zugehörigem Namen hinter sich zu lassen, bevor sie eine eigene gründeten. Isabell hat ebenso selbstverständlich ihren Namen behalten. Seine Tochter wiederum heißt weiterhin Schmiet. Obwohl sie verheiratet ist. Mit einem Mann, dessen Namen er sich nicht merken kann.

 

Er hat nicht genügend Wörter. Zugleich sind es zu viele. Und nie die richtigen, und nie die richtigen zur rechten Zeit.

Schnee.

Sein Gedächtnis ist eine Kommode mit prall gefüllten Schubladen. Manche klemmen. Aus anderen fällt ihm der Inhalt geradezu entgegen. Je weiter Ereignisse zurückliegen, desto größer die Schubladen. Die Kindheit hat gleich mehrere.

So weiß wie Schnee/ So rot wie Blut/ So schwarz wie Ebenholz. 1

 

Was schreibst du denn da? Isabell steht plötzlich hinter ihm. Er legt eine Hand auf das Blatt.

 

Wie das wohl sein wird, wenn die Leute sagen, gibt es den alten Mann nicht mehr, der immer hierher kam zum Einkaufen? Der mit der Mütze? Eine Weile wird es dauern, bevor sie ihn vermissen. Und vermissen ist auch nicht das richtige Wort. Vielleicht würde auch gar niemand bemerken, dass er fehlt. Oder bemerken, es aber unerwähnt lassen.

 

Nicht leicht zu akzeptieren, dass man nicht mehr der ist, der man sein möchte. Hat er das gesagt oder nur gedacht? Das weiß er nicht mehr. Den Anlass weiß er noch: Seine Frau und seine Tochter – nur wenig jünger als seine Frau – haben über ihn beraten. Anfangs war er noch einbezogen, dann, als er nicht reagierte, haben die Frauen die Sache unter sich besprochen.

Die Stimmen der beiden sind einander ähnlich. Das ist ihm immer schon aufgefallen.

Er will das ja nicht…

Das muss er einsehen!

Von seiner Einwilligung hängt nichts mehr ab.

 

Es geht dir doch gut, sagt seine Frau am Abend.

Er lächelt.

Früher hat die Tochter die neue Ehefrau ihres Vaters verachtet. Es bedurfte seiner Schwäche, um zwischen den Frauen Verständigung möglich zu machen. Sie reden über ihn statt mit ihm.

 

Er hätte gern einen Hund.

Mach das nicht, sagt die Tochter zu Isabell, das bleibt dann später alles an dir hängen.

 

Träumerchen hat seine Mutter immer gesagt, mein Träumerchen. Das war er wirklich: Ein Kind, das in Geschichten lebte.

 

Das Märchen mit Paleibo, Mama, bitte!

Was soll das sein, Paleibo?

Paleibo!

Paleibo – das gibt es nicht, das ist überhaupt kein richtiges Wort!

Doch! Paleibo…!

Wochen später hieß es in einem der Märchen, die selten vorgelesen wurden:

Beileibe nicht!

Das Kind jubelte:

Paleibo!!!

 

Tatsächlich, es hat gedauert, bis er aufgewacht ist. Die Schule, das war nichts für ihn. Als Lehrling in einer Schreinerei haben sie ihn nur genommen, weil ihnen einer abgesagt hatte. Als er dann später am Theater gearbeitet hat, in den Werkstätten, hat er Anne kennengelernt. In der Kostümschneiderei. Wie frisch das Leben war, damals. Nicht nur er selbst, auch die Welt hat ganz anders gerochen.

 

Er erinnert sich, wie es war, als Anne zum ersten Mal zu ihm in die Werkstatt kam. Eine Arbeitsplatte war kaputt gegangen.

Können Sie sich das mal ansehen?

Als Anne krank wurde, konnte er nicht begreifen, was das bedeuten sollte: Sie, die allen half, brauchte Hilfe.

Nicht für lange.

 

Isabell hat er in Annes Atelier kennengelernt. Sie stand auf einem Stuhl und Anne steckte ihren Rocksaum ab. Sie hatte eine Rolle als Statistin in einem Antikenprojekt ergattert. Später kam sie noch einmal in die Werkstatt.

Anne ist im Krankenhaus.

Er erinnert sich, dass ihm in dem Moment die Tränen kamen. Isabell umarmte ihn.

Bleib bei mir, bleib.

 

Er sieht an Isabells Blick, dass er offenbar laut gesprochen hat, ohne es zu bemerken. Und wo hat er jetzt wieder seine Brille gelassen? Braucht er die noch?

Die Buchstaben tanzen vor seinen Augen.

 

Ohne die junge Frau hätte er damals nicht standgehalten. Anne lebte noch, als Isabell zu ihm zog. Besuche im Krankenhaus konnte er kaum ertragen.

Bleib nicht allein. Das ist nichts für dich.

Er wollte etwas sagen. Aber sie schüttelte den Kopf.

Geh jetzt. Bitte, geh jetzt.

 

Er hat Isabell überfallen, kaum dass die Wohnungstür geschlossen war. Wortlos. Gegen die wilde Trauer, die ihn in den Krallen hielt, gab es nur die Flucht in den Trieb. Wie eine Heimkehr ins Animalische, ins Ursprüngliche. Abends taumelte er in den Schlaf, ließ sich verschlucken von der Dunkelheit. Isabells ruhige Atemzüge an seiner Seite. Das war Trost. Das war Heimat. Aufwachend, in früher Morgenstunde, überrollte ihn wieder der Schmerz. Und wieder gab es nur einen Trost. Er wühlte sich ins Fleisch der Schlaftrunkenen hinein bis sie schrie.

 

Der frohen Stunden unverhoffte Wiederkehr.

War das eine Gedichtzeile oder Teil einer Geschichte? Das weiß er jetzt gerade nicht. Er weiß nicht immer alles zur gleichen Zeit. Vieles weiß er nur gelegentlich. Manches weiß er, aber es fällt ihm nicht ein. Er schreibt jeden Tag eine Zeile. Keine eigenen Worte mehr. Die Wörter der anderen. Er liest sich jede Zeile laut vor.

Der frohen Stunden unverhoffte Wiederkehr.

Klingt doch gut!

 

Was heißt nochmal Adoleszenz? Isabell mag er nicht fragen. Er nimmt das Fremdwörter-Lexikon zur Hand.

Fremd-Wörter. Fremde Wörter.

Wo ist gleich wieder die Brille? Die findet er nicht. Aber die Lupe liegt, wo sie zu liegen hat: In der Schreibtischschublade. Griffbereit. Na also.

Adoleszenz – Jugendalter.

Er schreibt es auf. Und liest weiter:

Adonai. Hebräisch: Anrede Gottes.

Adonis. Griechische Sage: Schöner Jüngling.

Er schreibt die Wörter untereinander:

 

Adoleszenz

Adonai

Adonis

 

Das sieht gut aus: Eine Dreiergruppe pro Tag:

 

Cholera

Chor

Chromat

 

Herbarium

Hedoniker

Hegemonie

 

Beim Abendessen sitzen sie sich gegenüber. Isabell legt das Handy neben ihren Teller. Immer wieder greift sie danach und er beobachtet, wie ihre Konzentration in das leuchtende Rechteck hineinsinkt.

 

Weh mir, wo nehm ich wenn es Winter ist die Blumen… 2

Was sagst du?

Sie legt ihre Hand auf seine. In der Nacht hat er das ganze Gedicht vor sich hin sagen können, Zeile für Zeile. Mitsamt den heilig-nüchternen Wassern, den Schwänen, den gelben Birnen und allem Drum und Dran. So flüssig, als sei es vor ihm auf einer Wand abzulesen gewesen. Und jetzt, wo sie zuhört, kann er nur stammeln.

Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist …. Blumen und Schatten der Erde.

 

Nach seinem Ausflug in die Eifel darf er nicht mehr allein vor die Tür.

 

Heinrich, der Wagen bricht…! 3

Meine Güte, was schreist du denn so?

Hat er geschrien? Er schreit doch nicht, er schreibt doch nur. Seine täglichen Zeilen.

Aber nein, der Wagen nicht…

 

Annes Körper und seiner bildeten ein Ganzes. Er fühlte sich hilflos sobald er sich aus ihrer Umarmung löste.

In der Schwangerschaft ergab sich für Anne eine neue Gemeinschaft, die ihn ausschloss.

Die Frucht. Die Leibesfrucht.

 

Am Grab von Anne standen er und die Tochter auf Armeslänge entfernt voneinander.

 

Wie konnte es passieren, dass er seine Brille in den Kühlschrank gelegt hat, wie Isabell behauptet. Er erinnert sich einfach nicht.

 

Schon wieder ist die Tochter zu Besuch.

Manchmal ist er ganz wie immer, sagt Isabell, da merkt man gar nichts, dann wieder…

 

Am Abend sagt sie: Wir überlegen, was wir machen.

Sie will öfter weg. Das sagt sie nicht, das weiß er.

Mach dir keine Sorgen, ich komme zurecht. Ich bin gern allein.

 

Übrigens kommt morgen ein Herr von der Versicherung, sagt Isabell.

Er weiß, was das bedeutet.

Das Idiotenspiel! Hat ihm Hans erzählt, ein Kollege.

Sie fragen, wie du heißt, wo du geboren bist, ob du weißt, welchen Wochentag wir haben, wer Kanzler ist, und ob du dich gelegentlich einnässt.

Hans ist lange tot.

 

Anne sitzt neben ihm auf der Bettkante. Er hat sie gar nicht gesehen, als er ins Zimmer kam.

Wehr dich, Idiot! Worauf wartest du? Wehr dich!

Er will nach ihrer Hand greifen. Aber Anne ist schon wieder verschwunden.

 

Das Idiotenspiel langweilt ihn. Isabell hat ihn als Greis dekoriert. Er sitzt im Sessel mit Strickjacke und der alten Cordhose, die er sonst nur noch im Garten anzieht. Neben sich ein Glas Tee. Ingwer.

Der Prüfer mit seinem Laptop sitzt ihm gegenüber.

Er lächelt.

Können sie mich verstehen, Herr Schmiet?

Er lächelt.

Der Prüfer wirft Isabell einen Blick zu. Sie zuckt die Schultern.

Die nächste Frage betrifft die Politik.

Er hört nicht zu. Lächelnd lässt er seinen Blick im Zimmer umherwandern.

Der Prüfer macht sich Notizen. Er lächelt jetzt auch.

Tja, Herr Schmiet, wir werden dann mal sehe, was wir für Sie tun können…

Er steht auf.

 

Was zwingt mein armes Herz in diese

Wolkenumnachtete Totenstille? 4

 

Er spricht die beiden Zeilen überdeutlich aus.

Der Prüfer setzt sich wieder.

Das ist schön! Haben Sie das gedichtet?

Das hat er jetzt manchmal, sagt Isabell.

Wir finden eine Lösung, sagt der Prüfer zum Abschied zu Isabell. Sie müssen nur etwas Geduld haben.

 

Was zwingt mein armes Herz in diese…

Ist ja gut, sagt sie.

 

Am Abend allein in seinem Zimmer bringt er Ordnung in die Gedächtnisschubladen. So gut es eben geht. Die verhedderten Gedanken lässt er liegen. Was sich nicht entwirren lässt, das braucht er nicht. Er wird morgen früh den Bus um acht Uhr drei nehmen, zum Bahnhof. Sein Zimmer liegt zur Straße hin, ebenerdig. Er wird aus dem Fenster steigen. Ginge er durch die Wohnung zur Haustür, würde es Geräusche geben. Auf keinen Fall will er Isabell wecken.

 

Um sieben Uhr wacht er auf. Ganz wie gewohnt. Ein heller frostiger Tag Anfang März. Kalt und blau. Noch im Liegen atmet er tief. Er fühlt sich gut. Während er sich anzieht – die Cordhose und den Pullover über den Schlafanzug – fällt ihm ein, dass die Wanderschuhe im Keller stehen.

So ein Mist!

Das kann er nicht ändern. Wenn sein Plan gelingen soll, darf er das Zimmer nur durchs Fenster verlassen. Er packt den kleinen Rucksack: Ein Fläschchen Wasser, ein Fläschchen Grappa. Schokolade. Kräcker. Im Kleiderschrank stehen dünne Lederslipper, Sommerschuhe. Zieht er die eben an. Kommt aber mit den dicken Socken nicht hinein.

Dann eben ohne Socken.

Etwas Kleingeld steckt er in die Hosentasche.

Das Portemonnaie – Inhalt: zwei Zwanzigeuro-Scheine – seine Ausweise, den Versicherungsnachweis, das Handy, seine Armbanduhr und den Hausschlüssel legt er auf das Heft mit seinen Aufzeichnungen.

Vorsichtig öffnet er das Fenster und die Fensterläden. Sie quietschen ein bisschen. Den kleinen Rucksack stellt er außen auf die Fensterbank.

Er setzt sich auf die Fensterbank, schwingt dann die Beine durch die Fensteröffnung, so dass er jetzt mit dem Rücken zum Zimmer sitzt. Er stößt sich ab und springt. Tiefer, als er geglaubt hat.

Das war knapp.

Aber er steht auf beiden Beinen. Er nimmt den Rucksack von der Fensterbank. Um die Fensterflügel vorsichtig wieder zu schließen, muss er sich strecken, es gelingt. Er schließt auch die Fensterläden. Er kämpft sich durch die Büsche bis zum Trottoir vor. Und stürzt jetzt doch.

Die blöden Schuhe!

Steht aber auf und klopft die Hose ab. Das Handgelenk hat eine böse Schramme abbekommen. Die Knie schmerzen. Hoffentlich hat ihn niemand gesehen. Im Bus sind außer ihm nur drei Leute. Er kennt sie nicht, sie werden ihn nicht kennen. Er weiß, von welchem Gleis aus die Züge Richtung Eifel fahren. Ein Schaffner geht durch den Mittelgang, eine Fahrkartenkontrolle findet nicht statt. Er hat kalte Füße. Wie beim letzten Ausflug fährt er bis zum Endbahnhof. Er kennt sich aus.

Waldeinsamkeit! 5

 

Er läuft den Weg am Bach entlang. Dann steil hinauf. Er will die Lichtung erreichen. Viel weiter kommt er nicht. Die Füße schmerzen, die Knie auch, das Handgelenk. Einen Schuh hat er unterwegs verloren. Er setzt sich auf die Lehne einer Bank. Begegnet ist ihm niemand. Wäre schön, wenn er jetzt einen Hund bei sich hätte. Er packt die Grappa-Flasche aus und die Schokolade. Der Blick übers Tal. Noch ist kein Laub an den Bäumen, aber die Vögel zwitschern vom Frühling.

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein

Und Schatten der Erde.

 

Es wird schon Abend, als Anne zwischen den Bäumen hervortritt. Er erkennt sie am Gang. Sie kommt näher und er sieht, dass sie das geblümte Seidenkleid trägt. Ihm zuliebe hat sie es manchmal angezogen, obwohl sie meinte, es stehe ihr nicht. Jetzt streckt sie den Arm aus, sie winkt:

Komm schon, stell dich nicht so an. Steh auf und komm her.

Tanzen. Die Gesichter dicht beieinander. Ihre Hand in seiner. Er drückt sie fest an sich. Wärme. Klänge. Sein Blick in ihrem. Sie lächelt ihn an.

Gut so. Du machst das gut.

 

Gefunden wird er am nächsten Vormittag gegen elf Uhr vom Hund des Försters. Ausweise trägt der Tote nicht bei sich. Die Lokalzeitung berichtet über den Fall. Das Ordnungsamt schaltet sich ein. Die Gemeinde trägt die Bestattungskosten.

 

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1 Im Märchen Schneewittchen der Brüder Grimm heißt es: Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz.

2 Die Zeile stammt aus dem Gedicht Hälfte des Lebens von Friedrich Hölderlin aus dem Jahr 1804. Die zweite Strophe lautet: Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.

3 Gegen Ende des Märchens Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich der Brüder Grimm finden sich folgende Zeilen: »Heinrich, der Wagen bricht!« – »Nein, Herr, der Wagen nicht, / Es ist ein Band von meinem Herzen, / Das da lag in großen Schmerzen, / Als Ihr in dem Brunnen saßt / Und in einen Frosch verzaubert wart.«

4 Das Gedicht Mein Vorsatz von Friedrich Hölderlin beginnt mit den Worten: O Freunde! Freunde! die ihr so treu mich liebt! / Was trübet meine einsamen Blicke so? / Was zwingt mein armes Herz in diese / Wolkenumnachtete Totenstille?

5 Zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs Waldeinsamkeit siehe Wikipedia!

 

Impressum  Letzte Änderung:  Mo., 28. Okt. 2024

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